"Die jüngsten Zahlen sind sehr irreführend"
Verursachen Velofahrende Unfälle, weil sie unaufmerksam sind? Einige der jüngsten Statistiken lassen dies vermuten. Delphine Klopfenstein Broggini, Präsidentin von Pro Velo Schweiz, sagt: "Die jüngsten Zahlen sind sehr irreführend. Sie müssten im Verhältnis der Anzahl der Velos im Verkehr oder den zurückgelegten Distanzen dargestellt werden", betont sie. Pro Velo fordert eine an die Velomobilität angepasste Infrastruktur, da nur so das Ziel des Bundes, die Anzahl der mit dem Velo zurückgelegten Strecken zu verdoppeln, erreicht werden kann.

In ganz Europa ist das Velo das einzige Verkehrsmittel, bei dem die Zahl der tödlichen Unfälle seit den 2010er Jahren nicht gesunken ist. Im Jahr 2020 waren 10 % der Verkehrstoten und 24% der Schwerverletzten Velofahrer:innen, im Vergleich zu 7 % bzw. 15% im Jahr 2011. Laut der EU-Beobachtungsstelle für Strassenverkehrssicherheit, die diese Zahlen veröffentlicht1 , gibt es dafür mehrere Gründe: die Zunahme der Velokilometer, die unzureichende Infrastruktur, das Verhalten der Velofahrenden und die mangelnde Durchsetzung der Gesetze.
In der Schweiz ist die Entwicklung ähnlich. Der Anteil der Velounfälle steigt (sie machten 2022 fast 46 % aller Strassenverkehrsunfälle aus), während der Anteil der verunfallten Autos sinkt. Man muss zwischen den Zahlen der Versicherungen (die nur Unfälle von Versicherten erfassen) und den Zahlen der Polizei unterscheiden, die jedoch nur bei gemeldeten Unfällen eingreift.
E-Bike und Autos: selbes Risiko
Die Zahl der schwer verletzten oder getöteten Velofahrenden nimmt stetig ab, wie das Bundesamt für Strassen (ASTRA) zeigt. Die Zahl der Todesfälle bei Unfällen mit Elektrovelos ist hingegen gestiegen. Von 2020 bis 2024 stieg sie von 15 auf 25 (von insgesamt 250 im 2024, davon 81 bei Autounfällen). Die Zahl der Schwerverletzten mit E-Bikes stieg zwischen 2020 und 2023 von 521 auf 595 und ging 2024 zurück (auf 533, von insgesamt 3792 letztes Jahr.)
Der Schweizer Pkw-Bestand umfasste 2024 4,8 Millionen Fahrzeuge, der Velobestand 5,2 Millionen (ohne Motor) und 1,4 Millionen (E-Bikes). Betrachtet man die Anzahl der Todesfälle im Verhältnis zur Anzahl Fahrzeuge, so betrug die Sterblichkeit sowohl für das Auto als auch für das Elektrovelo im Jahre 2024 0,017 ‰.
Die Verkaufszahlen bestätigen den Zusammenhang zwischen Unfällen und der Anzahl der Velos: Laut Velosuisse, dem Verband der Schweizer Velolieferanten, ist das Elektrovelo nicht gefährlicher als das nicht-motorisierte Velo. "Die zurückgelegten Distanzen sind etwa dreimal so lang", erklärt der Verband. "Wenn man dies auf die Anzahl der gefahrenen Kilometer umrechnet, ist das Elektrovelo sogar sicherer als das Velo." Elektrovelos sind oft stabiler und haben stärkere Bremsen. Einige Modelle sind mit ABS ausgestattet. Die Pflicht, seit 2023 auch tagsüber das Licht einzuschalten, ist weltweit einzigartig. Und die Durchschnittsgeschwindigkeiten sind nicht so hoch wie oft behauptet: 14,6 km/h für E-Bikes 25
In ihrer neuesten Mitteilung macht die Suva die Unaufmerksamkeit von Velofahrenden für die Unfälle verantwortlich. Sie ist tatsächlich die häufigste Unfallursache bei nicht-motorisierten Velos und die zweithäufigste bei E-Bikes (langsam und schnell), aber auch die zweithäufigste bei Autos und Motorrädern. Der Zustand der Infrastruktur, der bei Pkw nie ein Unfallfaktor ist, wird bei Unfällen von motorisierten und nicht motorisierten Zweirädern genannt.
Unaufmerksamkeit: bei allen Verkehrsträgern ein Thema
Bereits 2020 hatte die Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) das Problem der Unaufmerksamkeit bei den verschiedenen Verkehrsträgern analysiert. Dabei kam heraus, dass "rund 30 Prozent der beobachteten Autofahrer:innen abgelenkt waren". Bei Velofahrer:innen waren es 20 % und bei Fussgänger:innen 48 %.
Auch wenn es nicht möglich ist, eine genaue Kausalität festzustellen, so ist doch klar, dass die Zahl der Unfälle in den Ländern, in denen am meisten Velo gefahren wird (NL, Deutschland, Dänemark, Belgien), höher ist. In den Niederlanden und Dänemark ist es jedoch gelungen, die Zahl der Toten und Verletzten zu senken, indem die Infrastruktur verbessert wurde.
Für Delphine Klopfenstein Broggini ist es also nicht erwiesen, “dass das Velofahren heute gefährlicher wäre als früher. Aber jede:r Tote und jede:r Verletzte ist ein:e Tote:r und ein:e Verletzte:r zu viel, und es muss alles getan werden, um die Zahl der Unfälle zu senken". Um die Sicherheit von Velofahrer:innen zu erhöhen - die beim Velofahren ihre Gesundheit schützen, etwas für die Umwelt machen und gleichzeitig den Verkehr entlasten - "müssen wir mehrere Hebel in Bewegung setzen. Die Erhöhung des seitlichen Überholabstands, wie wir sie fordern, ist eine davon. Eine weitere Massnahme ist, dass Lkw beim Abbiegen in Ortschaften Schrittgeschwindigkeit fahren müssen. Auch das Veloweggesetz muss fristgerecht umgesetzt werden und damit für mehr Sicherheit durch eine angepasste Infrastruktur und eine gerechtere Verteilung des öffentlichen Raums sorgen. Eine Aufstockung der Bundesmittel würde hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Mit dem Effekt der kritischen Masse wird die Sicherheit der Velofahrenden umso besser gewährleistet, je mehr Velofahrer:innen es gibt".
Auch wenn es nicht möglich ist, eine genaue Kausalität festzustellen, so ist doch klar, dass die Zahl der Unfälle in den Ländern, in denen am meisten Velo gefahren wird (NL, Deutschland, Dänemark, Belgien), höher ist. In den Niederlanden und Dänemark ist es jedoch gelungen, die Zahl der Toten und Verletzten zu senken, indem die Infrastruktur verbessert wurde.
https://www.pro-velo.ch/de/ueber-uns/aktuelles/artikel/unfallstatistik-muss-umfassender-werden